Zwischen Harmonie und Ehrlichkeit – über Authentizität im Yoga
Authentizität – dieses Wort ist überall.
Es klingt nach Freiheit, nach Wahrheit, nach sich selbst sein dürfen.
Doch was bleibt davon, wenn das Echte sich hinter Filtern verliert?
Wenn Konflikte umgangen, statt angesprochen werden?
Wenn wir Harmonie anstreben – aber die Ehrlichkeit dabei verlieren?
„Nicht alles, was wie Yoga aussieht, ist auch Yoga.“
Diesen Gedanken trage ich seit einiger Zeit mit mir herum...
Wenn ich durch Social Media scrolle.
Wenn Konflikte nicht angesprochen, sondern durch Smileys, subtile Anspielungen oder schweigende Abwesenheit ersetzt werden.
Wenn Klarheit mit Kühle verwechselt wird. Und Diplomatie mit Distanz.
Dabei wäre gerade dann das Gespräch so nötig.
Nicht das perfekte. Nicht das diplomatische. Sondern das ehrliche.
Das, in dem auch mal Stille entsteht, weil man keine Worte findet.
Das, in dem Enttäuschung benannt werden darf. Schmerz.
Nicht alles lässt sich harmonisch lösen – aber vieles lässt sich menschlich klären.
Wir leben in einer Zeit, in der Kritik schnell als Angriff empfunden wird.
In der Rückzug oft als Reife gilt. Und Konflikte lieber umschifft als ausgehalten werden.
Doch gerade im Yoga – einem Weg der inneren Auseinandersetzung – braucht es Reibung.
Nicht destruktiv, sondern als Impuls für Entwicklung.
Nicht laut, aber klar.
Yoga ist ein Weg der Auseinandersetzung.
Mit dem eigenen Geist, dem Körper, dem Leben. Und mit anderen Menschen.
Dabei helfen uns nicht nur die Asanas, sondern vor allem die Yamas – die fünf ethischen Prinzipien, die in den alten Schriften des Yoga als Grundlage für ein bewusstes Miteinander genannt werden. Sie sind keine Gebote, keine Verbote, sondern Einladungen. Und sie sind aktueller denn je.
Gerade dann, wenn es unbequem wird.
Gerade dann, wenn wir authentisch sein wollen – aber nicht wissen, wie.
Ahimsa – Nicht-Verletzen
Oft denken wir bei Gewaltfreiheit an körperliche Gewalt. Doch Ahimsa meint viel mehr: auch keine verletzenden Worte, keine manipulativen Andeutungen, kein bewusstes Schweigen, das wie ein Entzug wirkt.
Manchmal meinen wir es gut – und verletzen doch, weil wir Dinge nicht ansprechen, sondern zurückhalten, ausweichen, abtauchen.
Ahimsa heißt nicht, alles zu schlucken. Sondern: ehrlich sein, ohne zu verletzen. Klar sein, ohne zu zerstören.
Das ist eine Kunst. Und eine Praxis.
Satya – Wahrhaftigkeit
Wahrhaftigkeit ist keine Rechtfertigung, alles ungefiltert rauszuhauen. Satya verlangt: Wahrheit mit Verantwortung.
Zu spüren: Was ist echt in mir – und wie kann ich das so sagen, dass ich meinem Gegenüber nicht die Tür zuschlage?
Satya heißt auch, sich selbst ehrlich zu begegnen. Zu sagen: „Ich bin verletzt.“ Und nicht: „Alles gut.“
Oder: „Ich weiß gerade nicht, wie ich damit umgehen soll“ – statt: „Ich zieh mich zurück und melde mich einfach nicht mehr.“
Asteya – Nicht nehmen, was uns nicht gehört
Das klingt abstrakt, wird aber im Miteinander ganz konkret.
Es geht hier auch um emotionale Integrität: Nicht Raum nehmen, wenn jemand Nein meint. Nicht Aufmerksamkeit einfordern auf Kosten anderer. Nicht mit Andeutungen spielen, die andere verunsichern oder in Loyalitätskonflikte bringen.
Asteya erinnert uns daran, mit Energie, Vertrauen und Beziehung so umzugehen, als wären sie kostbar – weil sie es sind.
Brahmacharya – Maß halten
In der heutigen Zeit könnten wir sagen: Maß halten in allem, was wir äußern.
Nicht alles, was wir fühlen, muss ungefiltert ausgesprochen werden. Nicht jede Enttäuschung muss in einen Post.
Brahmacharya bedeutet, bewusst mit unserer Ausdruckskraft umzugehen.
Vielleicht ist es genau das: Nicht mehr zu sagen, als der Moment tragen kann. Und nicht weniger, als notwendig ist, um verbunden zu bleiben.
Aparigraha – Nicht festhalten
Wie oft halten wir an alten Geschichten fest? An dem, was war – oder was hätte sein sollen?
Aparigraha lädt uns ein, loszulassen.
Auch die Erwartung, dass es immer harmonisch sein muss. Auch die Vorstellung, wie jemand „eigentlich“ hätte reagieren sollen.
Loslassen ist nicht gleichbedeutend mit Gleichgültigkeit. Es ist ein Anerkennen: Nicht alles wird geklärt. Nicht alles bleibt. Aber Echtheit entsteht da, wo wir die Kontrolle loslassen – und ins Gespräch gehen, auch ohne zu wissen, wie es ausgeht.
Die Yamas sind für mich kein erhobener Zeigefinger.
Sie sind eine Art innere Rückfrage:
Was lenkt mein Handeln gerade?
Diene ich der Verbindung – oder meiner Verletztheit?
Will ich wirklich klären – oder recht haben?
Wenn wir Authentizität ernst nehmen, dann braucht es genau das:
Eine ständige Rückverbindung nach innen. Und den Mut, auch nach außen in Kontakt zu treten.
Nicht immer perfekt. Nicht immer souverän. Aber echt.
Ich schreibe das nicht aus einer Position der Überlegenheit.
Ich schreibe es, weil ich glaube, dass Yoga mehr ist als Körperarbeit. Mehr als Ästhetik.
Yoga ist Beziehung. Mit sich. Mit anderen. Mit dem Leben.
Vielleicht ist das die schwierigste Asana im Yoga:
Nicht der Handstand. Sondern das ehrliche Gespräch.
Nicht die Stille auf der Matte – sondern die Stille, die danach in Worte findet.
Nicht immer schmeichelnd. Aber verbunden.
Als ich mich selbst zu lieben begann, da erkannte ich, dass mein Denken mich behindern und mich krank machen kann. Doch als ich mein Herz mit meinem Verstand verband, da bekam mein Denken einen wichtigen Verbündeten. Diese Verbindung nenne ich heute Herzensweisheit.
Wir brauchen uns nicht weiter vor Auseinandersetzungen, Konflikten und Problemen mit uns selbst und anderen zu fürchten, denn sogar Sterne knallen manchmal aufeinander und es entstehen neue Welten.
Heute weiß ich: Das ist das Leben.
(zugeschrieben Charlie Chaplin)
Vielleicht entstehen genau in diesen Momenten – in der Reibung, im Ringen, im ehrlichen Austausch – neue Welten. 🌎
Nicht durch Gleichklang. Sondern durch den Mut, sich zuzumuten.
Und vielleicht reicht es für den Anfang, sich wieder zu trauen zu sagen:
„Das hat mich verletzt. Lass uns reden.“