24 kleine Gesten der Aufmerksamkeit

Meine Tochter – inzwischen 28 Jahre alt – hat mich gebeten, ihr endlich wieder einen Adventskalender zu schenken. Interessant ist, wie tief eine Tradition wirkt, dass sie sich bis ins Erwachsenenleben hineinträgt. Gleichzeitig habe ich meine Schwiegertochter gefragt, ob mein Enkel – gerade einmal anderthalb – schon einen Adventskalender bekommen soll. Ihre Antwort war schlicht: Er wird das noch gar nicht verstehen.

Und genau da liegt für mich eine spannende Beobachtung: Kinder sind im Hier und Jetzt. Für sie zählt der Moment, nicht das Warten auf ein zukünftiges Ereignis. Vorfreude ist nichts, womit wir geboren werden, sondern etwas, das wir lernen.

Die Freude, die wir erwarten, färbt die Gegenwart.
— Seneca

„Vorfreude ist die schönste Freude.“

Dieser alte Satz klingt fast banal. Aber vielleicht steckt genau darin die Magie des Adventskalenders: jeden Tag ein winziger Moment, der uns daran erinnert, dass Warten nicht leer ist, sondern gefüllt sein kann mit Zuwendung und kleinen Gesten. Mit einem Adventskalender lernen wir, das Warten zu gestalten.

Wir bekommen jeden Tag ein kleines Heute, das die Brücke zum Morgen schlägt.

Ein Blick zurück

Bei dem Gedanken an Adventskalender habe ich mich gefragt, woher diese Tradition eigentlich kommt. Gerade weil ich aktuell in Südafrika bin, stellte sich die Frage: Gibt es Adventskalender auch hier – oder vielleicht in anderen Teilen der Welt? Bei meiner Recherche habe ich entdeckt: Es handelt sich tatsächlich um eine „deutsche Erfindung“. Im 19. Jahrhundert markierten Familien die Tage bis Weihnachten mit Kreidestrichen an der Tür, mit aufgehängten Bildern oder Bibelversen. Später kamen gedruckte Kalender, und irgendwann die kleinen Türchen mit Schokolade. Heute begegnen wir Adventskalendern in allen Variationen – von Tee über Lego bis hin zu luxuriösen Kosmetikprodukten.

Doch jenseits dieser Vielfalt bleibt der Kern derselbe: die tägliche Erinnerung an Vorfreude und Zuwendung.

Rituale sind die Anker im Strom der Zeit.

Eine persönliche Erinnerung

Ich erinnere mich gut an meinen ersten Advent, nachdem ich von zu Hause ausgezogen war. Anfang 20, neu in Hamburg, weit weg von meiner Familie – und dann schickten mir meine Eltern einen selbstgebastelten Kalender. Für mich war das etwas ganz Besonderes: Jeden Tag ein kleines Päckchen öffnen, ein vertrautes Ritual, das mich durch die Adventszeit getragen hat.

Einmal allerdings konnte ich die Neugier nicht zügeln und öffnete ein Säckchen zu früh. Darin fand ich keinen Schokoriegel, sondern einen Zettel. In der Handschrift meines Vaters stand: „Du sollst doch nicht eher reinschauen.“ Bis heute ist es genau diese kleine Botschaft, die mir unvergesslich geblieben ist.

Am Ende sind es immer die kleinen Dinge, die das Herz groß machen.

Rituale, die uns tragen

Vielleicht sind es nicht die Dinge selbst, die zählen, sondern das Gefühl, das sie hervorrufen. Ein Adventskalender erinnert uns daran, dass Freude nicht im großen Geschenk liegt, sondern in den vielen kleinen Momenten unterwegs. Er schenkt uns Vorfreude, das Gefühl von Verbundenheit und das Wissen, dass jemand an uns denkt. Er trägt die Wärme von Familie, Vertrautheit und Liebe – Jahr für Jahr, Türchen für Türchen.

Rainer Maria Rilke schrieb:

Man muss Geduld haben gegen das Ungelöste im Herzen … und versuchen, die Fragen selbst lieb zu haben.

So verwandelt sich ein scheinbar schlichter Brauch in ein Ritual, das uns trägt: ein Symbol für Vorfreude, Tradition, Verbundenheit und die Kraft der kleinen Gesten.

Reflexion

Vielleicht magst du dich fragen: Welche kleinen Rituale schenken dir Geborgenheit in der Adventszeit – und begleiten dich durch diese besonderen Wochen?

Vielleicht liegt genau darin die eigentliche Schönheit dieses Rituals: Adventskalender sind mehr als kleine Aufmerksamkeiten. Sie erinnern uns daran, die Zeit bewusst wahrzunehmen – nicht als bloßes Warten auf das große Fest, sondern als Einladung, jeden Tag ein Stückchen Vorfreude ins Heute zu holen.

Jack Kornfield sagt: „Achtsamkeit bedeutet, das Leben im gegenwärtigen Moment zu berühren.“
Und Rainer Maria Rilke erinnert uns: „Die wahre Heimat des Menschen ist die Gegenwart.“

Ein Adventskalender kann genau das sichtbar machen:

dass Zukunft und Gegenwart sich nicht ausschließen, sondern ineinander greifen. Jeder kleine Beutel, jedes Geschenk ist ein Moment des Innehaltens. Ein täglicher Hinweis, dass es nicht darum geht, möglichst schnell im Morgen zu sein – sondern das Heute nicht zu verpassen.

So wird Vorfreude selbst zur Achtsamkeitspraxis: ein Weg, der uns sanft durch den Dezember trägt.

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Im Spiegel des Selbstbildes