Wenn der Körper nicht begreift, dass ruhen erlaubt ist

Kennst du das – du nimmst dir endlich Zeit, um langsamer zu werden, und trotzdem läuft in dir etwas weiter?
Der Kopf sagt: Jetzt darfst du loslassen.
Aber der Körper hört (noch) nicht zu.

Die Aufgaben sind erledigt, das Tempo ireduziert, und doch fühlst du dich innerlich, als wärst du noch im Dauerlauf.
Es ist, als würde dein System nicht verstehen, dass gerade nicht mehr hochtourig verlangt wird.

Wir merken oft erst, dass wir angespannt waren, wenn wir endlich aufhören zu kämpfen

Wenn Loslassen nicht (sofort) gelingt

Diese Phase nach einer intensiven Zeit ist vielen vertraut.
Endlich ist Raum da – und genau das fühlt sich plötzlich fremd an.
Die innere Unruhe meldet sich, Gedanken kreisen, der Körper sucht nach dem gewohnten Rhythmus von Aktivität.

Ich kenne das gut. Es sind diese Übergangszeiten, in denen sich alles nach Entspannung sehnt – und gleichzeitig nichts entspannen will.
Mir geht das jedes Mal so, wenn ich von Hamburg nach Südafrika komme.
Eigentlich ist dort vieles leichter, heller, weiter – und trotzdem dauert es eine ganze Weile, bis mein Körper (und auch mein Kopf) wirklich loslässt.
Manchmal sitze ich schon längst in der Sonne, spüre den Wind, geniesse die Weite – und merke: Innerlich bin ich immer noch im deutschen Rhythmus, in diesem Modus des „weiter, weiter“.
Es ist jedes Mal interessant zu beobachten, wie lange es dauert, bis etwas in mir begreift, dass ich atmen und mich entspannen darf.

Und genau das ist kein persönliches Versagen, sondern eine zutiefst menschliche Reaktion:
Das Nervensystem hat seine eigene Zeitrechnung.

Der Körper hinkt der Seele hinterher

Neurophysiologisch betrachtet braucht der Körper Zeit, um neue Zustände zu begreifen.
Das autonome Nervensystem – also das Zusammenspiel von Sympathikus und Parasympathikus – reagiert nicht auf Gedanken oder Wünsche, sondern auf konkrete Signale von Sicherheit oder Bedrohung.

Wenn der Sympathikus über Wochen hinweg aktiv war, dann hält er den Körper auch über den realen Beanspruchungszeitraum in Dauerbereitschaft:

Herzfrequenz, Muskeltonus und Atem bleiben erhöht, auch wenn die äußeren Anforderungen längst vorbei sind.
Der Körper bleibt sozusagen „im Einsatz“, selbst wenn der Kopf schon “ENT-schleunigung” signalisiert.

Dieses Nachschwingen ist eine Schutzfunktion.
Unser Organismus will sicherstellen, dass die “Gefahr” wirklich vorüber ist, bevor er die Energie zurückfährt.

Erst wenn der Parasympathikus – vor allem über den Vagusnerv – die Rückmeldung bekommt: Es ist sicher genug, um loszulassen, beginnt der Körper zu regenerieren.

Du kannst dir das wie ein Pendel vorstellen, das stark ausgeschlagen wurde: Es braucht Zeit, bis es zur Ruhe kommt.
Und selbst in der Ruhe bleibt noch eine feine Schwingung – das Residuum der Aktivierung.

Dieser kleine Nachhall im Nervensystem erinnert den Körper noch an die Zeit der Anspannung, selbst wenn der Kopf längst weiß, dass alles gut ist. Erst mit der tiefen Erfahrung von Sicherheit beruhigt sich auch diese letzte Schwingung.

Forscher*innen nennen diesen Zustand allostatische Last:
eine Art „Abdruck“ vergangener Belastung, der im Nervensystem gespeichert bleibt.
Das erklärt, warum Erholung oft nicht sofort einsetzt, sondern erst, wenn Körper und Geist wieder synchron sind.

Wenn du also das Gefühl hast, du solltest längst entspannt sein, bist es aber nicht – dann liegt das nicht an dir, sondern an einer körperlichen Intelligenz, die dich beschützen will.

 
Sicherheit entsteht nicht durch äußere Bedingungen, sondern durch die Erfahrung, dass wir bleiben dürfen.
— Jack Kornfield

Was wir oft übersehen

Nicht jede Form von Stress ist schädlich.
Unser Körper unterscheidet zwischen Eustress – also jenem anregenden, motivierenden Stress, der uns wach und konzentriert hält –
und Distress, dem erschöpfenden, chronischen Stress, der uns auf Dauer auslaugt.

Das eigentliche Problem ist also nicht der Stress selbst, sondern das Fehlen der Regeneration.
Wenn die Pausen fehlen, verliert der Körper die Fähigkeit, von Anspannung in Entspannung zu wechseln.
Und genau dort beginnt der Teufelskreis:
Wir sind müde, aber können nicht abschalten.
Wir sehnen uns nach Ruhe – und spüren sie nicht.

Achtsamkeit als Brücke

Achtsamkeit kann hier zu einer Brücke werden – kein Werkzeug, um Entspannung zu erzwingen,
sondern eine Haltung, die dem Körper erlaubt, dort zu sein, wo er gerade ist.

Wenn wir die Unruhe wahrnehmen, ohne sie sofort verändern zu wollen, entsteht Raum.
Ein Raum, in dem der Körper selbst zu spüren beginnt, dass er sicher ist.
Denn Sicherheit entsteht nicht durch Denken, sondern durch Erfahrung – durch Atem, durch Empfindung, durch das einfache Dasein.

Ich erinnere mich an viele Momente, in denen ich dachte, jetzt müsste ich doch endlich ruhig sein.
Aber Ruhe ist kein Schalter. Sie ist ein Prozess, der mit Wahrnehmung beginnt.

Achtsamkeit bedeutet, sich diesem Prozess zuzuwenden – liebevoll, geduldig, interessiert.
Das Nervensystem braucht diese Zuwendung.
Es muss lernen, dass Entspannung nicht gefährlich ist, sondern ein Zuhause.

Vielleicht ist der wichtigste Schritt im Leben der Moment, in dem du innehältst.
— Tara Brach

Mini-Meditation: Ankommen, wo du bist

Setz dich aufrecht und bequem hin.
Spür den Boden unter deinen Füßen, das Gewicht deines Körpers.
Atme ein – spür, wie die Luft kommt.
Atme aus – spür, wie sie geht.

Lass den Atem für dich arbeiten.
Er muss nichts verändern. Er darf nur fließen.
Wenn du magst, leg eine Hand auf dein Herz.
Sag dir innerlich: Ich darf ankommen. In mir. Hier. Jetzt.

Bleib noch einen Atemzug. Nur einen.
So beginnt Regeneration – nicht im Kopf, sondern im Körper.

Reflexionsimpuls

  • Wann hast du zuletzt gespürt, dass dein Körper noch im alten Rhythmus war, obwohl dein Leben längst weitergezogen ist?

  • Gab es einen Moment, in dem du erkannt hast, dass Ruhe nicht entsteht, weil du sie willst – sondern weil du dir erlaubst, einfach da zu sein?

Vielleicht magst du in den kommenden Tagen darauf achten, welche kleinen Gesten dein System beruhigen – eine Handbewegung, ein tiefer Atemzug, ein Blick ins Licht.

Oft ist das der Anfang von Heilung:
Nicht das Tun, sondern das Erlauben.

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24 kleine Gesten der Aufmerksamkeit