Zebra unter Haflingern – Yoga & Hochsensibilität leben
Ich beschäftige mich bereits seit meinem Studium an der Paracelsus Schule mit dem Thema Hochsensibilität.
Damals sprach mich eine Kollegin darauf an und meinte: "Du fällst mit Sicherheit in diesen Bereich." Und es war, als ob jemand innerlich ein Fenster öffnete. Eine solche Erleichterung. Zu erfahren, dass es mehr von mir gibt. Dass ich nicht verrückt bin, nicht verkehrt.
Ein gestriger Austausch mit meiner Freundin Jenny Gerdes – selbst Yogalehrerin und Studioinhaberin – hat mir erneut vor Augen geführt, wie sehr sich das Leben hochsensibler Menschen von dem sogenannter „Normalsensibler“ unterscheidet.
Wir schicken uns nahezu täglich lange Sprachnachrichten, weil unsere Gespräche oft nicht in Echtzeit stattfinden können – nicht, weil uns der Austausch nicht wichtig ist, sondern weil unsere sozialen Batterien im Alltag, gerade durch den Yogaunterricht, oft schon aufgebraucht sind. Unsere Energie ist tagesformabhängig. Unsere Reizfilter sind durchlässiger. Unser Nervensystem schneller erschöpft. Und gerade deshalb braucht unsere Art des Lebens und Arbeitens Flexibilität, Rückzugsräume und Verständnis.
Was das Ganze zusätzlich schwierig macht:
Hochsensible Menschen werden oft vorschnell als "Drama-Queens" abgestempelt. Aber was von außen wie Drama wirkt, ist in Wahrheit ein tiefes, komplexes Erleben. Keine Übertreibung, sondern ein anderer Filter der Weltwahrnehmung. Und es ist schwer, sich das selbst zuzugestehen, wenn man weiß: Etwa 80 % der Menschen können das nicht nachempfinden.
Deshalb ist es so heilsam und wichtig, Gleichgesinnte zu finden. Menschen, die nicht erklären müssen, warum sie nach einem lauten Tag in der Stadt drei Stunden Stille brauchen. Menschen, bei denen kein "Du bist zu empfindlich" fällt, sondern ein stilles Nicken und ein "Ich versteh dich".
Wir leben nicht linear. Sondern wellenförmig. Und das braucht Raum.
Hochsensibilität ist keine Einbildung
Die Psychologin Elaine N. Aron prägte in den 1990er-Jahren den Begriff "Highly Sensitive Person" (HSP). Sie fand heraus, dass etwa 15 bis 20 % der Bevölkerung ein besonders empfindsames Nervensystem haben. Das bedeutet nicht, dass wir überempfindlich oder labil sind. Sondern dass wir tiefer verarbeiten, feiner wahrnehmen und schneller überreizt sind.
Aron spricht von einem Merkmal, keinem Makel. Ein Merkmal, das sich durch vier Kernmerkmale auszeichnet, im Englischen mit dem Akronym "DOES" zusammengefasst:
Depth of processing: Tiefe Verarbeitung von Informationen
Overstimulation: Schnellere Überreizung durch zu viele Reize
Emotional reactivity & Empathy: Starke emotionale Resonanz und Empathie
Sensitive to subtleties: Wahrnehmung feinster Nuancen in der Umgebung
Was die Wissenschaft sagt
Die Forschung zur Hochsensibilität entwickelt sich stetig weiter. So konnte ein Team um die Neurowissenschaftlerin Bianca Acevedo in mehreren Studien zeigen, dass hochsensible Menschen in bildgebenden Verfahren (fMRT) stärkere Aktivierungen in Gehirnregionen wie der Insula und dem anterioren cingulären Cortex zeigen – Areale, die mit Selbstwahrnehmung, emotionaler Tiefe und Empathie in Verbindung gebracht werden (vgl. Acevedo et al., 2014).
Diese besondere Sensibilität geht häufig mit erhöhter Reizoffenheit einher, was zu Erschöpfung führen kann – aber auch zu erhöhter Kreativität, Intuition und einem tiefen inneren Kompass.
Ein weiteres spannendes Feld ist die Verbindung von Hochsensibilität mit Neurodiversität. Immer mehr Fachleute betonen, dass Hochsensibilität nicht als Störung oder Defizit zu sehen ist, sondern als Teil der natürlichen Vielfalt menschlicher Wahrnehmung – ähnlich wie z. B. bei Synästhesie oder ADHS.
Auch wenn es nicht pathologisch ist, verlangt Hochsensibilität ein Umfeld, das Rücksicht nimmt – besonders in Bereichen wie Bildung, Arbeitswelt und eben auch im Yogaunterricht.
"Sensory processing sensitivity is associated with greater awareness, responsiveness, and reflection." – Bianca P. Acevedo & Elaine Aron
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Hast du Interesse an mehr Inhalten zu diesem Thema? Ich denke gerade darüber nach, ein Mentoring speziell für hochsensible Yogalehrerinnen zu entwickeln – als geschützten Raum für Austausch, Stärkung und Orientierung. Würde dich so ein Angebot ansprechen?
Yoga durch eine hochsensible Brille
Für mich war Yoga nie einfach nur eine Körperübung. Es war immer ein Raum für Selbstbegegnung, für ein "Ich darf so sein, wie ich bin".
Aber in der realen Praxis merke ich immer wieder, dass viele Yogaangebote nicht auf die feinen Bedürfnisse hochsensibler Menschen abgestimmt sind. Die Musik ist oft etwas zu präsent, der Raum fühlt sich schnell überladen an, und die Sprache im Unterricht ist manchmal so zügig, dass kaum Zeit bleibt, das Gehörte wirklich sacken zu lassen. Auch die Gruppendynamik, so lebendig sie sein kann, wirkt auf ein sensibles Nervensystem schnell überfordernd – besonders, wenn es an ruhigen Übergängen und achtsamer Integration fehlt.
In Gesprächen, wie gestern mit Jenny, merke ich, wie wichtig es ist, dass wir über diese Unterschiede sprechen. Dass wir öffentlich machen, was sonst oft still im Innern bleibt: Dass Hochsensible andere Werte leben. Andere Grenzen haben. Und dass das nicht falsch ist. Sondern wichtig.
Die Geschichte vom Zebra und den Haflingern
Ich bin schon vor vielen Jahren auf ein Bild gestoßen, das mir tief aus der Seele spricht – und das mich bis heute begleitet.
Die Therapeutin Anne Heintze beschreibt in ihrem Buch "Außergewöhnlich normal" Hochsensible als Menschen, die sich oft wie bunte Zebras inmitten einer Herde Haflinger erleben.
Haflinger stehen dabei für bodenständige, strukturierte Persönlichkeiten, die mit Ausdauer und Klarheit durchs Leben gehen – nicht besser, nicht schlechter, einfach anders.
Die Zebras dagegen? Wachsam, sensibel, lebendig, schwer zu zähmen – aber voller Tiefe, Intuition und innerem Reichtum. Und unter diesen Zebras gibt es noch die besonders bunten – jene, die ihren eigenen Weg gehen, oft unkonventionell, mit einem feinen Gespür für das, was ihnen wirklich entspricht. Nicht weil sie sich bewusst gegen gesellschaftliche Normen stellen, sondern weil sie ihre innere Wahrheit leben möchten – authentisch, frei und manchmal eben außerhalb gewohnter Bahnen. Ich zähle mich zu ihnen. Und ich weiß, wie viel Mut es braucht, diese Form von Andersartigkeit nicht nur zuzulassen, sondern sie als Kraftquelle und Einladung zu einem stimmigen Leben zu begreifen.
“Hochsensible Menschen sind keine defekten Versionen der Norm. Sie sind außergewöhnlich normal – mit einem tieferen Blick, einem empfindsameren Nervensystem und einem ausgeprägten Bedürfnis nach Sinn und Echtheit.”
Heintzes Buch empfehle ich von Herzen, denn es beschreibt auf kluge, respektvolle Weise, warum Hochsensibilität eben kein Makel ist, sondern eine besondere Art, die Welt zu erleben. Für mich war diese Metapher ein echtes Aha-Erlebnis. Ich habe so lange versucht, ein Haflinger zu sein. Mich angepasst, durchgezogen, mitgehalten. Bis mein Nervensystem irgendwann gestreikt hat.
Heute weiß ich: Ich bin kein Arbeitstier. Ich bin ein Zebra. Und das ist gut so.
Hochsensibilität ist auch eine Gabe
"Die feinen Antennen, die dich manchmal erschöpfen, sind dieselben, die dich so tief fühlen, sehen und verstehen lassen." – Dieses Zitat (unbekannter Herkunft) begleitet mich seit Jahren.
Denn genau das ist die Kehrseite der Hochsensibilität: Unsere Fähigkeit, tiefer zu spüren. Zwischen den Zeilen zu lesen. Atmosphären zu deuten. Und genau darin liegt die Chance: Hochsensibilität ist auch eine Ressource. Eine Kraft. Eine Gabe.
Und ja, manchmal auch eine Zumutung.
Was ich mir wünsche
Ich wünsche mir mehr Gespräche wie das mit Jenny. Mehr Austausch, mehr Mut, die eigene Sensibilität nicht als Schwäche zu verstecken, sondern als Teil unserer Natur zu leben. Ich wünsche mir Yogaräume, die nicht nur für Haflinger gemacht sind, sondern auch für Zebras.
Ich wünsche mir, dass wir aufhören, uns mit anderen zu messen, und stattdessen anfangen, uns selbst besser zu verstehen.
Vielleicht braucht es dafür ein neues Mentoring-Angebot. Vielleicht eine neue Seite auf meiner Homepage. Vielleicht einfach nur diesen einen Satz:
"Du bist nicht zu empfindlich. Du bist genau richtig."
Und wenn du dich jetzt irgendwo zwischen den Zeilen wiedergefunden hast, dann weißt du vielleicht: Du bist auch ein Zebra. Und das ist wunderschön.