Sequencing im Yoga: Mehr Raum, weniger Reihenfolge

The art of teaching is the art of assisting discovery.
— Mark Van Doren

Sequencing war für mich nie nur ein Plan.
Es ist vielmehr ein Gespräch – zwischen Körper und Bewusstsein, zwischen Gruppenenergie und Intuition, zwischen Idee und dem, was im Moment wirklich gebraucht wird.

Und je länger ich unterrichte, desto mehr erkenne ich:
Es geht nicht um die Reihenfolge. Es geht um den Raum.

Nicht: Was kommt als nächstes?
Sondern: Was darf jetzt entstehen?

1. Sequencing als Struktur – nicht als Korsett

Es gibt gute Gründe, eine Klasse mit einer klaren Struktur aufzubauen. Das Nervensystem liebt Orientierung. Der Körper braucht sinnvolle Progression. Doch eine gute Struktur ist kein starres Korsett, sondern ein dynamisches Gerüst, das mitatmet, sich mitbewegt und sich anpasst – an das, was da ist.

Jason Crandell formuliert es treffend:

"A smart sequence prepares the body for what's to come – without exhausting it on the way there."

Ich habe in meinen Ausbildungen bei Jason viel über funktionale Anatomie, über intelligente Progression und über die Kunst gelernt, einen Flow so zu strukturieren, dass er sowohl Freiheit als auch Halt bietet. Was mir besonders in Erinnerung geblieben ist: Seine Sequenzen sind nie Selbstzweck. Sie dienen der Erfahrung – nicht der Perfektion. Und sie basieren auf einem tiefen Respekt für den Körper als lebendiges System.

Ich würde ergänzen:
Ein smartes Sequencing bereitet den Körper nicht nur vor – es respektiert seine Biografie. Seine Möglichkeiten. Seine Tagesform.

2. Die Bedeutung individueller Anatomie

Jeder Körper bringt seine eigene Geschichte mit:
Narben, Kompensationen, Hypermobile, starke Schultern, schiefe Becken, fasziale Verklebungen, Gewohnheiten aus Tanz, Büro, Sport oder Kindheit.

Meine Kollegin und Yoga-Freundin Christiane Wolff, Fachfrau für Medical Yoga und Spiraldynamik® sagt oft:

"Anatomie ist nicht neutral. Sie ist individuell, lebendig – und muss respektiert werden."

Ein Sequencing, das diese Realität anerkennt, plant nicht für eine Form, sondern für ein Spektrum.
Nicht: Alle gehen jetzt in den Krieger III.
Sondern: Wie kann ich heute eine Balance-Erfahrung anbieten, die verschiedene Körper einlädt – ohne sie zu verbiegen?

3. Energetische Logik – oder: Was braucht das Nervensystem?

Ein anatomisch kluges Sequencing berücksichtigt Muskelketten, Gelenkmechanik und myofasziale Linien.
Ein energetisch kluges Sequencing fragt: Was braucht das Nervensystem heute?

Bin ich erschöpft – oder unterfordert?
Möchte ich nach innen sinken – oder mich aufrichten?
Bin ich im Sympathikus gefangen – oder offen für Regulation?

Sequencing wird dann zu einer Begegnung mit dem Zustand, nicht mit der Idealform.
Und oft ist weniger mehr:
Ein bewusst gesetzter Übergang. Eine Wiederholung. Eine Einladung zur Stille.

“Sequencing ist kein Designprozess, sondern eine Achtsamkeitspraxis."

Damit das nicht abstrakt bleibt, hier ein paar ganz konkrete Hinweise – besonders für Jung-Lehrende:

Was hilft?

  • Plane bewusst eine Phase zum Runterkommen oder Zentrieren zu Beginn – unabhängig vom Thema der Stunde.

  • Baue Wiederholungen ein, die den Atem führen – nicht nur die Form.

  • Beobachte, ob deine Sprache mehr beruhigt oder eher aktiviert.

  • Lass zwischen zwei fordernden Posen eine Pause entstehen: im Sitzen, im Stehen oder in einer neutralen Haltung.

Was besser nicht:

  • Nervensystem überfordern mit zu vielen wechselnden Reizen (Musik, Licht, Sprache, Posen).

  • Sequenz bis zum Peak treiben, wenn die Gruppe eher nach Integration verlangt.

  • Atem aus den Augen verlieren – er ist dein Gradmesser, nicht die äußere Form.

    Manchmal braucht es keine neuen Inhalte – sondern mehr Tiefe im Spüren dessen, was ohnehin da ist.

4. Sequencing für reale Gruppen – nicht für Lehrbücher

In keiner Klasse der Welt sitzen zehn identisch gebaute, gleich fitte Menschen.
In der Realität: ein ISG-Thema hier, ein erschöpftes Nervensystem da, jemand mit emotionalem Ballast, ein HSP (der nichts sagt), und eine Mutter mit zu wenig Schlaf.

Sequencing für reale Gruppen braucht:

  • Variationen, die nicht stigmatisieren (z. B. "Du kannst auch … ausprobieren, wenn es heute besser passt." oder "Finde die Variante, die dich heute am besten unterstützt.")

  • Sprachliche Offenheit: "Wenn du magst… Wenn es sich gut anfühlt…"

  • Das Vertrauen, dass nicht jede*r alles mitmachen muss

photocredit @gritsiwonia

Jason Crandell nennt das „intelligent accessibility“ – und ich finde, das trifft es genau:
Nicht vereinfachen. Sondern vielfältig zugänglich machen.

Ein Beispiel aus meiner eigenen Unterrichtstätigkeit:
In meiner "Back-to-Basic"-Klasse am Dienstagabend hatte ich eine klar strukturierte, mobilisierende Sequenz geplant. Doch schon beim Ankommen wurde spürbar: Heute geht es um etwas anderes. Die Teilnehmenden wirkten erschöpft, gehetzt, innerlich zersplittert. Der Kopf noch im Büro, der Körper schon im Studio – aber das Herz? Ganz woanders.

Ich habe die Sequenz angepasst. Nicht alles losgelassen, aber Raum geschaffen – und mir erlaubt, langsamer zu starten.

Wir begannen in der Kindhaltung. Nicht als Pause, sondern als erstes Ankommen.
Ein stiller, weicher Übergang vom Außen ins Innen.
Atem. Schwerkraft. Spüren, dass man da ist.

Aus einer Basic-Klasse wurde eine Stunde, die Verbindung in den Mittelpunkt rückte – nicht durch besondere Asanas, sondern durch Raum.
Raum zum Spüren. Raum zum Sein.

Das Thema war immer schon da: Verbindung. Aber es bekam an diesem Abend mehr Gewicht, mehr Tiefe, mehr Raum.
Manchmal braucht es kein neues Thema.
Sondern nur die Bereitschaft, dem Offensichtlichen die Bühne zu geben – und wirklich zuzuhören, was jetzt gebraucht wird.

5. Raum im Sequencing heißt auch: Nicht alles muss vollendet sein

Nicht jede Stunde braucht einen sichtbaren „Höhepunkt“.
Nicht jede Asana muss auf eine finale Form hinauslaufen.
Nicht jede Sequenz muss auf ein Ziel zusteuern, das für alle gleich aussieht.

Und doch: Es darf ein roter Faden spürbar bleiben.
Ein Moment der Sammlung. Eine Art innerer Schlussakkord – auch wenn nicht alles aufgelöst ist.

Gerade darin liegt Tiefe:
Wenn etwas nicht perfekt, aber stimmig endet.
Wenn das, was sich zeigt, angenommen, nicht aufgelöst werden muss.

Sequencing darf Fragen stellen – und manchmal auch eine sanfte Antwort geben.
Es darf Bewegungsangebote machen – ohne Leistungsdruck.
Es darf Raum lassen für Integration. Für Atem. Für ein inneres Nachklingen.

Sequencing als Haltung, nicht als Liste

Sequencing ist mehr als das korrekte Aneinanderreihen von Bewegungen. Es ist die Fähigkeit, eine Atmosphäre zu gestalten, in der sich Menschen sicher, gesehen und eingeladen fühlen – unabhängig von ihrer körperlichen Konstitution oder emotionalen Tagesform.

Es verlangt Fachwissen – und ebenso Feingefühl. Struktur – und die Bereitschaft, sie loszulassen. Ein Konzept – und gleichzeitig ein echtes Hinhören auf das, was entsteht.

Was hilft beim Unterrichten?

  • Präsenz statt Perfektion

  • Klarer, aber flexibler Stundenaufbau

  • Wiederholungen zur Erdung und Integration

  • Sprachlich offene Einladungen statt fester Anweisungen

  • Sequenzen, die funktional und erfahrungsorientiert sind

  • Achtsames Tempo, passende Übergänge, bewusste Stille

  • Sensibilität für die Gruppe, Raum für unterschiedliche Bedürfnisse

Was eher nicht hilft:

  • Starre Pläne, die nicht auf Tagesform oder Gruppenzustand reagieren

  • Fokus auf „Peak Poses“ als Unterrichtsziel

  • Reizüberflutung durch Musik, Sprache, Dynamik

  • Fehlende Pausen und Integrationsphasen

  • Vereinheitlichung von Körpererfahrungen (one size fits all)

  • Sprache, die Leistung oder Korrektheit betont

Gutes Sequencing basiert auf Wissen: Anatomie, Bewegungslehre, Didaktik.
Aber exzellentes Sequencing entsteht aus Haltung: Präsenz, Mitgefühl, Wahrnehmung.

"Raum statt Reihenfolge" heißt nicht: Chaos.
Sondern: Bewusste Offenheit. Für Menschen. Für Körper. Für den Moment.

Und vielleicht ist genau das die wichtigste Lektion für uns als Lehrende:
Nicht alles im Voraus zu wissen.
Sondern bereit zu sein, den Raum mit dem Leben selbst zu füllen.

Teaching yoga is not about leading people somewhere. It’s about meeting them where they are – and holding space for what wants to unfold.
— frei nach Jason Crandell
 

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