Zwischen Tradition und Gegenwart – was Yoga heute sein kann

We are standing on the shoulders of Yoga and looking into the future.
— Ganga White

Ich sage heute lieber: Wir stehen auf den Schultern des Yoga – und sind im Jetzt.

Die Welt verändert sich. Und Yoga auch.

In den letzten Jahren ist etwas spürbar geworden.
Nicht nur bei uns in Hamburg, sondern weltweit.

Yoga entwickelt sich. Spaltet sich auf.
Öffnet sich. Dehnt sich aus.
Verliert sich vielleicht auch – je nachdem, wie man es betrachtet.

Manche klagen über die Verwässerung.
Andere feiern die Vielfalt.

Zwischen diesen Polen stehe ich.
Und frage mich: Was bleibt? Was verändert sich? Was ist Yoga heute wirklich – in einer Stadt wie Hamburg, in einer Zeit wie dieser, in einem Körper wie meinem?

Zwei große Richtungen

Wenn man heute durch Hamburger Studios geht, sieht man zwei klare Bewegungen:

👉 Auf der einen Seite: formstarkes Yoga, wie es in der Jivamukti-Schule praktiziert wird.
Kraftvolle Reihen, Musik, Disziplin, Hingabe.
Für viele Menschen gibt das Halt, eine klare spirituelle Richtung – vielleicht sogar ein Zuhause.

👉 Auf der anderen Seite: somatisch geprägte Räume.
Leise. Intuitiv. Nicht linear.
Hier geht es nicht darum, eine Haltung zu erreichen, sondern darum, wieder in Beziehung zum eigenen Körper zu treten.

Yoga heute heißt: Wahlmöglichkeit.
Aber auch: Orientierungslosigkeit.
Und mittendrin die Frage: Was ist das „echte“ Yoga?

Somatik in Bewegung

Was viele Hamburger Studios derzeit anbieten (und wir auch), ist Shake the Dust.
Ein Format, das aussieht wie ein HIIT-Training – aber im Kern tief somatisch ist.
Es geht darum, den Körper durch rhythmisches Bewegen, Schütteln, Atmen aus alten Mustern zu lösen.
Nicht durch Nachdenken – sondern durch Erleben.

Nicht jeder findet sich auf der Yogamatte in der Stille wieder.
Manche finden sich durch Schweiß, durch Musik, durch Bewegung.

Das ist keine Verwässerung.
Das ist Verkörperung – nur in anderer Form.

Zwischen Dankbarkeit und Dilemma – das Gespräch über kulturelle Aneignung

Inmitten all der Entwicklungen, des Aufbruchs, der Vielfalt in der Yogawelt – gibt es ein Thema, das schwer wiegt.
Und das bei vielen von uns eine Mischung aus Unsicherheit, Widerstand, Ehrlichkeit und Ohnmacht auslöst:
die Frage nach kultureller Aneignung.

In sozialen Netzwerken, in Artikeln, in Podcasts hört man immer wieder:

„Yoga gehört uns nicht.“
„Ihr habt euch bedient, ohne die Wurzeln zu ehren.“
„Yoga wurde entkernt, kommerzialisiert, entpolitisiert.

Ist das, was ihr da macht, wirklich noch Yoga – oder nur Wellness in Sanskrit-Verpackung?

Diese Kritik trifft. Und sie hat eine Berechtigung.
Denn Yoga stammt nicht aus Europa.
Es ist eingebettet in eine religiöse, soziale, kulturelle Geschichte – die oft ausgeblendet wird.

Viele Begriffe werden inflationär genutzt: Karma, OM, Dharma, Erleuchtung.
Oft ohne tieferes Verständnis.
Und ja – da dürfen wir uns angesprochen fühlen.

Aber in diesem Gespräch fehlt mir oft etwas:
Raum für Zwischentöne.
Raum für alle, die Yoga weder vereinnahmen noch nachahmen wollen, sondern bewusst und ehrlich weitergeben.
Für Lehrer*innen, die mit Hingabe unterrichten – und sich trotzdem fragen: Darf ich das?

Meine Position

Ich habe mich oft gefragt, ob ich etwas „falsch“ gemacht habe.
Ob ich zu viel übernommen habe – oder zu wenig.
Ob ich zu frei interpretiere – oder zu sklavisch folge.

Und gleichzeitig weiß ich:
Ich lehre Yoga nicht als etwas Fremdes.
Sondern als etwas, das mich über Jahre verändert hat.
Das mir einen Weg gezeigt hat – in schwierigen Zeiten, in Übergängen, im Alltag.
Und das ich mit größtmöglichem Respekt weitergeben möchte.

Ich glaube:
Es geht nicht darum, „authentisch indisch“ zu unterrichten.
Sondern authentisch bewusst.

Zwischen Aneignung und Entwicklung

Vielleicht hilft es, nicht in Schwarz-Weiß zu denken.

  • Aneignung passiert dort, wo wir ohne Bewusstsein übernehmen, was „gut klingt“.

  • Dankbarkeit beginnt dort, wo wir verstehen wollen.

  • Verbindung geschieht, wenn wir mit offenem Herzen weitergehen – und den Ursprung nicht vergessen.

Yoga hat sich schon immer verändert.
In Indien. In Europa. In Kapstadt. In Hamburg.
Es war nie starr.
Und es wird auch heute weiterwachsen – hoffentlich mit mehr Bewusstsein, mehr Respekt, mehr Tiefe.

Was bleibt?

Für mich bleibt der Kern:
Yoga ist ein Erfahrungsweg.
Ein Weg des Spürens.
Ein Weg der Rückverbindung.

Er braucht kein Sanskrit, keine Instagram-Haltung, keine “typisch indische” Zertifizierung.
Aber er braucht Aufrichtigkeit.
Und eine Bereitschaft, wirklich zuzuhören – dem Körper, der Geschichte, dem Moment.

Ich liebe die Philosophie.
Ich liebe Struktur.
Aber ich habe auch gelernt: Mein Körper will nicht immer folgen.
Manchmal will er tanzen, zittern, innehalten.
Nicht, um etwas zu erreichen – sondern um sich selbst wieder zu spüren.

Yoga heute bedeutet für mich:
Zwischen Respekt und Freiheit zu balancieren.
Mich zu fragen:

Was ist noch stimmig – und was nur Gewohnheit?
Was nährt mich – und was entfernt mich von mir selbst?

Und du?

Vielleicht brauchst du heute eine klare Abfolge.
Vielleicht brauchst du aber eher den Raum zum Loslassen.
Beides ist Yoga.
Solange du dabei spürst:
Ich bin da. Ich bin verbunden. Ich bin ehrlich.

Wir stehen auf den Schultern des Yoga.


Nicht, um zu kopieren, was war.
Sondern um mit Weichheit, Klarheit und Respekt weiterzugehen.

Mit einem offenen Herzen. Und mit den Füßen fest im Jetzt.

Tradition ist nicht das Halten der Asche, sondern das Weitergeben des Feuers.
— Gustav Mahler
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