Hochsensibilität und das Ringen ums Verstandenwerden
Gedanken über Kommunikation, Vielschichtigkeit und das Bedürfnis, gesehen zu werden.
Es gibt diese Momente, in denen ich innerlich schon drei Schritte weiter bin, während mein Gegenüber noch beim ersten Satz ist.
Ich spüre, dass sich etwas verändert – in der Stimme, im Blick, in der Atmosphäre.
Ich höre nicht nur, was gesagt wird.
Ich nehme wahr, was mitschwingt. Und was unausgesprochen bleibt.Das passiert nicht, weil ich übertreibe oder etwas hineininterpretiere.
Es passiert, weil mein System auf mehreren Ebenen gleichzeitig empfängt – ob ich will oder nicht.Und manchmal ist genau das das Problem.
Wahrnehmung mit Tiefenschärfe
Hochsensibilität bedeutet nicht nur, dass wir empfindlicher auf Geräusche, Licht oder Stimmungen reagieren. Es bedeutet vor allem: Wir erleben das Leben in Schichten.
Während andere noch überlegen, ob sie etwas fühlen, haben wir es oft schon durchlebt – emotional, gedanklich und körperlich.Ein einziger Satz kann in mir Folgendes auslösen:
Was wurde gesagt?
Wie wurde es gesagt?
Was könnte damit gemeint sein?
Ist das eine alte Wunde, die da berührt wurde?
Wie reagiere ich am besten – ohne überzureagieren?
Diese Art der Wahrnehmung ist tief, nuanciert, oft unglaublich feinfühlig – aber sie ist auch anstrengend. Für mich. Und manchmal auch für andere.
Der Kinosaal – mein Lieblingsbild
Ein Vergleich, der mir immer wieder hilft – auch in Gesprächen mit anderen:
Stell dir vor, wir sitzen nebeneinander im Kino.
Du siehst den Film. Ich auch.
Aber während du entspannt zurückgelehnt bist, sitze ich in der ersten Reihe.
Die Bilder sind riesig, der Ton ist laut, die Emotionen kommen direkt auf mich zu.
Ich kann nicht anders, als mittendrin zu sein.
Das bedeutet nicht, dass du weniger fühlst. Nur anders.
Und wenn ich neben dir plötzlich weine, obwohl du noch schmunzelst – dann ist das kein Zeichen von Übertreibung, sondern Ausdruck meiner Wahrnehmung.
So fühlt sich mein Alltag oft an: intensiv, nah, durchlässig. Und manchmal eben auch: zu viel.
Wenn Gespräche sich falsch anfühlen
Gerade in Beziehungen wird das schnell spürbar.
Ich sage etwas, meine es freundlich – aber nehme sofort wahr, dass es nicht gut ankam.
Oder umgekehrt: jemand sagt etwas, was objektiv harmlos klingt – und in mir bricht ein Sturm los.
Nicht, weil ich kleinlich bin.
Sondern weil mein System sofort mehr empfängt:
Die Körpersprache. Die Pause vor dem Satz. Das leise Seufzen danach.
Ich nehme nicht nur was gesagt wird wahr – sondern wie, wann und mit welchem inneren Unterton.
Und all das spielt für mich eine Rolle.
Das kann andere überfordern.
Und mich manchmal auch.
Das eigentliche Dilemma
Viele Missverständnisse entstehen nicht, weil wir uns nicht mögen.
Sondern weil wir nicht dieselbe Tiefe im Moment erleben.
Für mein Gegenüber war es „nur“ ein Satz –
für mich war es ein Tonfall, ein Blick, ein Vibrieren in der Luft, das mich auf mehreren Ebenen berührt hat.
Ich wünsche mir dann Verständnis.
Aber wie soll jemand etwas nachvollziehen, das er gar nicht selbst spürt?
Rückzug ist kein Mangel an Beziehung
Was oft dazukommt – und schwer zu erklären ist:
Ich brauche viel Rückzug. Regelmäßig. Und ohne den offensichtlichen Grund, den andere sofort verstehen können.
Nicht, weil ich Menschen nicht mag. Nicht, weil ich lieber allein bin.
Sondern weil mein Nervensystem voll (=überreizt) ist.
Als Yogalehrerin, Ausbilderin, Begleiterin bin ich mit Menschen in feinen Prozessen.
Ich spüre mit, höre zu, halte Räume.
Das tue ich mit Herz – aber es kostet mich eine Menge Energie.
Wenn dann ein freier Tag vor mir liegt, ziehe ich nicht los.
Ich ziehe mich zurück.
Ich atme. Ich bin still. Ich tue nichts im Außen– oder nur ganz wenig.
Und das ist keine Absage an meine Freunde oder meine Familie.
Es ist eine Zusage an mein Nervensystem.
Wenn ich eine Verabredung nicht einhalte oder kurzfristig absage, dann nicht, weil mir der Mensch nichts bedeutet –
sondern weil ich merke: Ich schaffe das gerade nicht.
Nicht sozial. Nicht emotional. Nicht energetisch.
Soziale Batterien laden nicht durch noch mehr Kontakte.
Sie laden durch Leere. Durch Langsamkeit. Durch Alleinsein.
Und ja, das wirkt manchmal befremdlich.
Aber vielleicht hilft dieser Gedanke:
Es ist kein Rückzug von dir – sondern ein Rückzug zu mir.
“Ich wünsche mir nicht, dass du fühlst wie ich. Ich wünsche mir nur, dass du mir glaubst, dass ich fühle, wie ich fühle.”
Wie erkläre ich etwas, das man nicht sehen kann?
Hochsensible Menschen möchten sich nicht ständig rechtfertigen müssen.
Sie möchten nicht als „überempfindlich“ abgestempelt werden, obwohl sie einfach anders wahrnehmen.
Aber wenn sie es nicht erklären, bleibt oft das Missverständnis bestehen.Ein zentraler Gedanke ist:
„Du musst nicht fühlen, was ich fühle – aber bitte glaub mir, dass ich es fühle.“
Manchmal hilft es, Bilder zu nutzen
Das Mikrofon
Hochsensible Menschen sind wie feine Mikrofone.
Sie nehmen nicht nur die Hauptmelodie wahr, sondern auch das Rascheln der Gardine im Nebenraum.
Und sie reagieren darauf – weil ihr System nicht auf Filtern, sondern auf Empfangen eingestellt ist, weil sie es nicht ausblenden können.
Der Regenmantel
Wenn Kritik fällt, perlt sie bei Menschen mit robusterer Wahrnehmung vielleicht wie an einem Regenmantel einfach ab.
Bei Hochsensiblen kommt sie direkt durch, sie nehmen sie direkter auf.
Nicht, weil sie schwächer sind – sondern weil ihre Haut durchlässiger ist. Nicht schwächer. Nur offener.
Der Farbfilter
Stell dir vor, du siehst die Welt in satten Farben. Hochsensible Personen sehen sie mit allen Zwischentönen, Schatten und Lichtreflexen – gleichzeitig. Das ist wunderschön, aber es macht auch müde.
Diese Bilder ersetzen keine Erklärung.
Aber sie können Gesprächsräume öffnen.
Und ein wenig dazu beitragen, dass sich Menschen auf verschiedenen Wahrnehmungsebenen näherkommen – ohne sich verbiegen zu müssen.
Ich schreibe das nicht, weil ich es kann
Vielleicht ist es an dieser Stelle wichtig, etwas ganz ehrlich zu sagen:
All das, was ich hier schreibe, bedeutet nicht, dass ich es besonders gut kann.
Im Gegenteil. Ich schreibe es, weil ich immer wieder an genau diesen Punkten scheitere.
Weil ich schweige, wo ich reden wollte.
Mich zurückziehe, wo ich eigentlich Verbindung suchte.
Oder zu viel erkläre – und dann wieder das Gefühl habe, zu viel gewesen zu sein.
Gerade deshalb glaube ich, dass es wichtig ist, solche Gedanken zu teilen.
Nicht als Anleitung. Sondern als Einladung.
Zum Austausch. Zum gegenseitigen Verstehen.
Zum Anerkennen, dass wir alle lernen – jeden Tag aufs Neue.
Und dass es Räume braucht, in denen Hochsensibilität kein Sonderfall ist,
sondern eine Facette des Menschseins, die nicht entschuldigt, sondern einbezogen wird.
Was helfen kann – ohne sich zu verbiegen
1. Klare, liebevolle Sprache.
„Ich merke, dass mich das gerade sehr berührt – ich weiß, du hast es nicht böse gemeint.“
2. Sprechen, wenn Ruhe im Raum ist.
Nicht im Streit, nicht im Affekt – sondern in Momenten, in denen echte Begegnung möglich ist.
3. Grenzen setzen – freundlich, aber klar.
„Ich brauche kurz Rückzug, das ist nicht gegen dich.“
„Heute ist viel bei mir angekommen – darf ich das später in Ruhe erzählen?“
4. Auch den anderen verstehen wollen.
Es ist leicht, enttäuscht zu sein, wenn man sich unverstanden fühlt.
Aber vielleicht ist dein Gegenüber kein Unmensch – sondern einfach nur nicht HSP 😉.
Nicht alles wird je erklärt werden können
Hochsensibilität ist nicht etwas, das man lernen oder nachvollziehen kann – es ist ein inneres Erleben.
Und dennoch können wir Brücken bauen.
Mit Sprache. Mit Geduld. Mit Bildern.
Und mit dem Bewusstsein:
Ich darf so sein, wie ich bin – auch wenn andere mich nicht immer verstehen.
Und andere dürfen so sein, wie sie sind – auch wenn ich “ihr Sein” wiederum häufig nicht verstehen kann.
Am Ende geht es nicht um „Recht haben“.
Sondern darum, sich ehrlich zu zeigen.
Und darum, Menschen um sich zu versammeln, die nicht alles fühlen müssen – aber bereit sind, zuzuhören.