Yoga als unsere innere Muttersprache

Was wäre, wenn dein Körper längst eine Sprache kennt, die du nur verlernt hast? Yoga gibt dir die Möglichkeit, diese Sprache wiederzufinden – Schritt für Schritt, Atemzug für Atemzug. Und vielleicht beginnt alles mit einem einfachen „Hallo“.

Atme, und du wirst entdecken, dass der Atem das Band ist, das dich mit dem Leben verbindet.
— Thích Nhất Hanh

Yoga als Sprache – was würdest du als Erstes sagen?

Stell dir einmal vor, Yoga wäre eine Sprache. Keine Fremdsprache, die du dir mühsam mit Grammatik-Tabellen und endlosen Vokabelkarten aneignen musst. Nicht etwas, das du wie eine Leistung erlernen und später abprüfen lässt. Sondern eine Sprache, die du längst in dir trägst – eine Muttersprache des Körpers und des Herzens. Nur dass wir sie im Laufe des Lebens verlernt haben, weil wir irgendwann aufgehört haben, auf sie zu hören.

Die ersten Worte in dieser Sprache sind keine Wörter im klassischen Sinn. Sie sind ein Atemzug, der auf einmal tiefer wird, als du es erwartet hast. Sie sind der Moment, in dem du merkst, wie die Schultern sinken, ohne dass du etwas dafür tun musst. Vielleicht sind sie auch ein leises Zittern im herabschauenden Hund, wenn der Körper noch sucht, wie er sich in dieser Haltung zurechtfinden kann. So klingt ein unsicheres „Hallo“ – das erste Wort in deiner ganz eigenen Sprache des Yoga.

Mit jedem Mal, das du auf die Matte gehst, wächst dein Wortschatz. Du lernst „Danke“ zu sagen – vielleicht, wenn du dich in einer Vorbeuge nach innen wendest und zum ersten Mal spürst, wie gut es tut, loszulassen. Du findest Worte wie „Ich bin hier“, wenn du im Krieger stehst und dich aufrichtest, stark und präsent. Und manchmal ist es ein stilles „Ich darf“, wenn du dich in Shavasana niederlässt und bemerkst, dass du nichts mehr leisten musst.

Patañjali schreibt: „Yogaś citta-vṛtti-nirodhaḥ – Yoga ist das Zur-Ruhe-Bringen der Bewegungen des Geistes.“

Vielleicht ist genau das der Moment, in dem du erkennst: Diese Sprache braucht nicht viele Worte. Sie spricht am deutlichsten in der Stille, im Atem, im Dazwischen.

Nach und nach entstehen aus diesen ersten Worten ganze Sätze. Ein Satz kann ein Atemfluss sein, der gleichmäßig durch dich hindurchgeht. Ein Satz kann eine Abfolge von Haltungen sein, die dich tragen wie ein Gedicht. Und irgendwann merkst du, dass du längst in einen Dialog eingetreten bist – mit dir selbst, mit deinem Körper, mit deinem Atem, mit dem Leben. In dieser Sprache ist jeder Atemzug ein Wort, jede Sequenz ein Absatz, jeder Moment des Innehaltens ein stilles Ausrufezeichen.

Das Schöne ist: Diese Sprache hat keine strengen Regeln. Sie kennt keine Fehler, kein richtig oder falsch. Jeder Körper spricht seinen eigenen Dialekt. Dein Atem gibt den Rhythmus vor – manchmal wie ein ruhiger Vers, manchmal wie ein abgehackter Satz. Und all das ist Teil deiner Sprache.

„Es gibt nicht den einen richtigen Weg. Es gibt nur deinen Weg,“schrieb T. Krishnamacharya, und vielleicht gilt das im Yoga mehr als irgendwo sonst.

So wie wir in einer neuen Sprache irgendwann anfangen, Geschichten zu erzählen, beginnt auch Yoga, dir Geschichten zu schenken 🎁

Geschichten über deine Kraft, wenn du eine Haltung länger hältst, als du es für möglich gehalten hättest. Geschichten über deine Verletzlichkeit, wenn du in einer Asana plötzlich Tränen spürst, ohne genau zu wissen, warum. Geschichten über Freude, wenn der Atem frei wird und sich Leichtigkeit einstellt.

Der Zen-Meister Dōgen sagte:

„Zu studieren, was der Weg ist, heißt, sich selbst zu studieren. Sich selbst zu studieren, heißt, sich selbst zu vergessen. Sich selbst zu vergessen, heißt, eins zu werden mit allem, was ist.“

Vielleicht ist es das, was die Sprache des Yoga uns zuflüstert: Dass wir keine getrennten Wesen sind, sondern Teil eines großen Gesprächs, das schon lange vor uns begonnen hat.

Und vielleicht ist die erste Botschaft, die du in dieser Sprache sagen möchtest, kein Wort, sondern eine Pause. Ein Atemzug, der wie ein Punkt in einem langen Satz wirkt. Ein Innehalten, das alles verständlicher macht.

Rainer Maria Rilke schreibt:

„Alles ist ausgesetzt dem Wandel, selbst das Festeste. Zwischen den Atemzügen halten wir das Unendliche.“

Genau dort, zwischen zwei Atemzügen, entfaltet sich die Sprache des Yoga.

Yoga ist die Sprache, die dich zurückführt – nicht nach außen, sondern nach innen. Eine Sprache, die du nicht nur sprichst, sondern wirst.

„Wenn du dich selbst im Innersten erkennst, bist du frei,“ heißt es in den Upanishaden.

Und vielleicht beginnt alles mit einem einzigen Wort. Mit einem Atemzug. Mit einem leisen Satz, der nur dir gehört.

Und so bleibt die Frage: Wenn Yoga deine Sprache wäre – was würdest du als erstes sagen wollen?

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Was würde dein Körper sagen, wenn er sprechen könnte?