Was macht eigentlich einen guten Yogaunterricht aus

Our goal in life is not to become perfect: our goal is to become whole.
— Bernie Clark

Du erinnerst dich vielleicht: an deine erste Yogastunde.
Ob bewusst oder nicht – du bist mit einer bestimmten Erwartung dorthin gegangen.

Vielleicht war’s der Wunsch nach Ruhe. Nach einer Stunde ohne To-do-Liste. Einfach mal durchatmen, einfach mal nichts müssen. Und dann kam da jemand in den Raum, stellte sich vorne hin – ruhig, klar, ohne großes Tamtam. Kein Showprogramm. Kein „Seht her“. Nur Präsenz. Und irgendwas in dir dachte: „Gut. Hier kann ich erstmal landen.“

Genau darum ging es auch in der Intensivwoche der neuen Yogalehrer*innen-Ausbildung. Nicht nur um Techniken, Philosophie oder Anatomie – sondern um diese eine, grundlegende Frage:

Was macht eigentlich eine gute Yogalehrerin, einen guten Yogalehrer aus?

Die Antworten, die wir fanden, waren vielfältig, kreisten aber alle um ähnliche Qualitäten: Präsenz, Freundlichkeit, Empathie. Eine klare Sprache. Gut ausgebildet zu sein, ja – aber vor allem: Verbindung aufzubauen, ohne sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen. Und neutral zu bleiben, auch wenn einem manche Teilnehmenden näher sind als andere.

Wir sprachen über Integrität und Objektivität. Über Nähe und Klarheit. Darüber, was es heißt, den Raum zu halten – ein Begriff, der heute selbstverständlich scheint, früher aber kaum verwendet wurde.

Und so kamen wir zu den Yamas, den ethischen Grundlagen des Yoga. Nicht als Dogma, sondern als Orientierung. Nicht als Regeln – sondern als Einladung zur Selbstreflexion. Als Haltung, die mitwächst – mit jeder Klasse, jedem Gespräch, jedem Moment auf und abseits der Matte.

Die Yamas – ein innerer Kompass

Patanjali beschreibt in den Yoga Sūtras fünf Grundprinzipien, die sogenannten Yamas. Sie gelten unabhängig von Kultur oder Lebenssituation – und sind wie ein innerer Spiegel.

„Diese Gelübde gelten universell – ungeachtet von Geburt, Ort, Zeit und Umständen.“
(Yoga Sūtra II.31)

Sie fordern uns nicht auf, immer alles perfekt machen zu müssen. Sie laden uns ein, wach zu bleiben. Im Alltag, im Kontakt, im Unterricht.

1. Ahimsa – Gewaltlosigkeit beginnt bei dir

Ahimsa heißt nicht nur „keine Gewalt“. Es beginnt mit dem Ton unseres inneren Sprechens. Wenn wir uns verhaspeln, einen halben Sonnengruß zu viel ansagen oder vergessen, auf der linken Seite anzuleiten – wie gehen wir dann mit uns um?

Natürlich wollen wir niemandem schaden. Ahimsa heißt aber auch: die Eigenart und das Tempo der Teilnehmenden zu respektieren. Nicht jede Haltung sieht gleich aus. Nicht jede Ausrichtung ist für jeden Körper sinnvoll.

Und dann stellt sich die Frage bei Assists:
Greife ich unterstützend ein, weil ich helfen möchte – oder weil ich denke, dass es „so gehört“?
Darf die Haltung lebendig bleiben – oder drücke ich sie unbewusst in eine Form, die mehr mit mir als mit dem anderen zu tun hat?

Ahimsa bedeutet manchmal, einfach da zu sein. Ohne Eingreifen. Ohne verbessern zu wollen. Nur präsent. Nur wach. Und bereit, die Kontrolle auch mal loszulassen.

„In der Gegenwart eines Menschen, der fest in Ahimsa verwurzelt ist, lösen sich Feindseligkeit und Aggression auf.“
(Yoga Sūtra II.35)


💭 Wo zeigt sich in meinem Unterricht echte Fürsorge – und wo vielleicht doch Druck, Anspruch oder Unachtsamkeit, obwohl es gut gemeint ist?

2. Satya – Wahrhaftigkeit in Beziehung

Satya bedeutet: Wort, Haltung und Raum stehen in Beziehung. Wahrhaftigkeit zeigt sich nicht nur darin, was wir sagen – sondern auch, wie wir zuhören. Und manchmal auch darin, was wir bewusst nicht sagen.

Als Yogalehrende bewegen wir uns zwischen Rolle und Persönlichkeit. Unsere Sprache wirkt – sanft, klar, ehrlich. Sie ist kein Vortrag – sie ist Einladung. Manchmal darf sie auch sagen: „Ich weiß es gerade nicht genau.“ Oder: „Ich bin heute selbst ein bisschen wacklig.“

„Satya ist das, was mit der Realität übereinstimmt, wenn es aus der Stille des Geistes heraus gesprochen wird.“
(T. K. V. Desikachar)

💭 Bin ich in meinem Unterricht wirklich ich – oder folge ich einem Bild, von dem ich denke, dass es erwartet wird?

3. Asteya – Nicht nehmen, was nicht gegeben wird

Asteya bedeutet: nicht aneignen, was nicht freiwillig gegeben wird. Dazu gehört auch Zeit. Wenn wir fünf Minuten zu spät starten oder zehn Minuten überziehen, nehmen wir Raum – den der Teilnehmenden, der nachfolgenden Lehrerin, manchmal sogar unsere eigene Pause. Yoga-Zeit ist keine Gleitzeit – auch wenn es sich manchmal so anfühlt.

Aber Asteya geht noch weiter. Nehme ich unbemerkt zu viel Raum in der Gruppe ein? Unterbreche ich jemanden im Gespräch, weil ich es „besser weiß“? Teile ich mich mit – oder teile ich aus? Auch Aufmerksamkeit kann man sich aneignen, ohne dass es gleich laut wird.

„Wenn der Wunsch, zu nehmen, erlischt, kommen alle Schätze des Lebens zu einem.“
(Yoga Sūtra II.37)


💭 Wo nehme ich mir Raum – der mir vielleicht gar nicht zusteht? Und wie bewusst gehe ich mit der Zeit anderer um?

4. Brahmacharya – Maß halten in Nähe und Energie

Brahmacharya wird oft eng ausgelegt – doch eigentlich geht es um Maßhalten: mit Nähe, mit Energie, mit Ausstrahlung. Als Lehrende übernehmen wir eine Rolle. Wir sind nicht Teil der Gruppe, nicht Vertraute, nicht Therapeut*in. Wir begleiten – mit Klarheit und Präsenz.

Und auch das kam in der Ausbildung zur Sprache:

Warum wir nicht während des Unterrichts mitpraktizieren. Warum wir keine engen Freundschaften mit unseren Schülerinnen pflegen sollten (und wenn, dass dann das Lehrerin/ Schüler*in Verhältnis ein Ende hat). Und warum Assists immer auch die Frage beinhalten: Was braucht der andere – und was kommt gerade von mir?

Und dann gibt es diesen Moment kurz vor Savasana, wenn dein innerer Monk findet, die Playlist passe heute irgendwie gar nicht.
Brahmacharya bedeutet dann vielleicht auch: es einfach lassen. Energie in die richtige Richtung fließen lassen – nicht in letzte Korrekturen, sondern in echten Kontakt.

„Brahmacharya ist das Fließen der Energie in die richtige Richtung.“
(B. K. S. Iyengar)


💭 Bin ich klar in meiner Rolle – und kann ich Nähe zulassen, ohne mich zu verlieren?

5. Aparigraha – Nicht festhalten, nicht anhäufen

Aparigraha heißt: loslassen. Erwartungen. Bewertungen. Perfektionsansprüche. Aber auch das Bedürfnis, gemocht zu werden oder eine bestimmte Rolle zu erfüllen.

Es bedeutet außerdem: nicht bestechlich sein. Innerlich wie äußerlich. Keine Allianzen, keine Lieblingsschüler*innen, kein unbewusstes „Sich-auf-die-Seite-Schlagen“.
Neutralität ist kein Mangel an Nähe – sondern Ausdruck von Respekt..

„Wer frei ist von Besitzgier, erkennt das Wesen der Existenz.“
(Yoga Sūtra II.39)


💭 Wo halte ich fest – an Rollen, Feedback, Erwartungen an mich selbst?

Was bleibt: Ethik ist Beziehung

Vielleicht ist das der Kern: Ethik ist keine Theorie. Kein Regelwerk. Sondern gelebte Beziehung. Zwischen dir und dir. Zwischen dir und der Gruppe. Zwischen deinem Anspruch und deinem Handeln.

Die Yamas helfen uns nicht, weil sie uns sagen, was richtig und falsch ist – sondern weil sie uns erinnern. Daran, zu spüren. Wach zu bleiben. Uns selbst zu sehen, inmitten anderer.

In der Ausbildungswoche haben viele gesagt, was sie an ihren Lehrer*innen schätzen:
fundiertes Wissen, Authentizität, Präsenz, Raumhalten.
Doch am meisten: Freundlichkeit. Eine ehrliche, weiche, menschliche Freundlichkeit. Kein Lächeln aus Pflichtgefühl – sondern eine offene Haltung, die den Raum wärmt.

Und vielleicht liegt genau darin der Unterschied zwischen Technik und Yoga:
Dass du nicht nur unterrichtest, sondern berührst.
Nicht durch perfekte Ansagen, sondern durch echtes Dasein.

Zum Weiterdenken:

  • Wo kann ich im Unterricht mehr lauschen, weniger leisten?

  • Was bedeutet für mich Integrität, wenn niemand hinsieht?

  • Welche Qualität möchte ich verkörpern – nicht als Ideal, sondern als Mensch?


The teacher who is indeed wise does not bid you to enter the house of his wisdom, but rather leads you to the threshold of your own mind.
— Khalil Gibran
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Nicht heilig, nur auf dem Weg